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Dem Menschlichen gewachsen sein– systemisch führen in Konfliktsituationen

Im Winter 1997 bekomme ich eine Anfrage über meine Künstleragentur: Zwei Forschungsteams eines Chemiekonzerns sollen zusammengelegt werden. In einem Berghotel mit dem schönen Namen „Feuriger Tatzelwurm“ sollen am letzten Workshop-Abend die Teilnehmer gemeinsam Theater spielen und lernen „miteinander zu harmonieren“. Ich sage spontan zu. Im Hotel angekommen sind Workshopleiter und Teamchefs frustriert, sie haben die Befürchtung, dass mit der Veränderung die Kreativität und Tatkraft ihrer Mitarbeiter verloren geht. Was tun? Der Eventabend wäre unter diesen Umständen eine Zumutung.

Ich wage ein Experiment: Beide Teamkulturen sollen eine szenische Darstellung ihrer Teamkulturen zeigen und bisher bewältige Konfliktsituationen darstellen. Dabei mache ich den Chefs klar: „Kreativität findet ohne Krisen nicht statt. Konflikte sind nicht wünschenswert, doch sie gehören dazu. Sie dürfen nicht verboten werden.“

Am Abend passiert etwas Überraschendes: Beide Teams zeigen ihre eigene Verwundbarkeit und legen internen Konflikte und ihre mehr oder minder gelungenen Krisenbewältigungsstrategien offen. Dies sorgt für Vertrauensvorschuss und stößt die Tür für eine gemeinsame Zukunft auf.

Klarheit und Zuversicht

Wenn ich auf die letzten 20 Jahre meiner Arbeit mit Führungskräften zurückblicke, ist mir der Teamchef vom „Feurigen Tatzelwurm“ deutlich im Gedächtnis geblieben. Aus meiner Sicht können nur die Chefs wirksam und glaubwürdig führen, die Konflikte und Krisen als Selbstverständlichkeit des menschlichen Daseins akzeptieren. Eben diese Chefs sehen die Vielzahl an Interessen-, Rollen-, Werte- und Zielkonflikten im Unternehmen und behandeln die Konfliktparteien weder herablassend noch beleidigt. Sie agieren systemisch, indem sie das komplexe Umfeld analysieren. Sie erstellen und überprüfen kontinuierlich eigene Hypothesen, wobei sie aufmerksam eigene Annahmen und Urteile unter die Lupe nehmen.

Konflikte und Krisen bedeuten Chaos. Ein Durcheinander, das verunsichert und verletzbar macht. Doch gleichzeitig ist Chaos eine Inkubationszeit für unerwartete Lösungen. Ungeduld, rigides Durchgreifen, leugnen der eigenen Verwundbarkeit ist zwar menschlich verständlich, doch in „stürmischen Zeiten“ wenig hilfreich.

Hier ist der Forschergeist gefragt und nicht die Parteinahme. Es gilt Wechselwirkungen zu sehen und zu klären: wurzelt der Konflikt in gekränkten Egos oder in Unklarheiten von Rollen und Verantwortungen? Verursachen formelle und informelle Zwickmühlen die Unruhe oder überhörte Ansprüche? Sind es wirklich Konflikte oder bloß Missverständnisse? Geht es um ein Machtgerangel oder um eine hitzige Expertenrunde? Gibt es Anzeichen einer konstruktiven Streitkultur oder muss ich dazwischen gehen, weil Menschen niedergemacht, beschämt und der Lächerlichkeit preisgegeben werden?

Die Führungskräfte, die den Prozess des Konfliktmanagements verstanden und verinnerlicht habe, stecken Menschen in stürmischen Zeiten mit Zuversicht und einer handlungsbetonten Haltung an. Latente Konflikte werden nicht verschwiegen oder notdürftig versorgt, da sie natürlicher Ausdruck der unternehmerischen Vielfalt sind und Signale für den notwendigen Wandel bedeuten können. Ein Konflikt bietet immer die Möglichkeit, sich selbst und die Beziehung zu anderen zu reflektieren, das eigene Wertesystem und Verhalten zu überprüfen, Neues von der Konfliktpartei zu lernen. Die Führungskräfte, die Zuversicht verkörpern, stellen sich in Krisen und Konflikten eigenen Zweifeln, Ängsten und der eigenen Wut.

Als ich damals den „Feurigen Tatzelwurm“ mitten in der Nacht verließ, hatte ich den Eindruck, dass das Berghotel wirklich seinen Namen verdient. Drinnen haben Menschen ein Feuer der Zusammenarbeit entfacht. Ihre Führungskräfte haben genug Mut und Einfühlungsvermögen gehabt, um sie bei dieser Arbeit nicht zu hindern. Und dann ließen sie sich von den eigenen Mitarbeitern mit der Zuversicht anstecken.